Der Herr von Burg Wyrm

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Ein Burgfried ist hauptsächlich dazu da, gesehen zu werden.
Er sagt: Siehst du die dicken Mauern aus Stein? Siehst du, wie hoch ich in den Himmel rage?
Siehst du, wie weit mein Schatten über die Ebene fällt?
Meine Mauern werden noch aufragen wenn deine Knochen zu Staub zerfallen, du Wicht.
Komm, versuch nur mich anzugreifen. Versuch nur, mir nicht zu gehorchen. 
 
Im Normalfall genügt die Anwesenheit eines Turmes aus angemessen drohendem Stein mit finster zusammengekniffenen Schießscharten damit es für den Burgherrn nicht nötig wird das unpraktische dustere Ding jemals zu betreten.
Man kann darin gut Korn lagern, weil es so schön dunkel ist. 
 
Im Turm von Burg Wyrm aber, gibt es ein Fenster.
Ein großes, zugiges, klaffendes Loch unter der Zinnenkrone, das folgendes mitteilt:
Ich wache. Ich sehe weit über diese Felder und Wälder und ich sehe auch dich, du kleiner verstohlener Wicht mit deiner dummen kleinen Spielzeugwaffe.
Versuch bloß nichts Krummes, sonst sprühen meine zusammengekniffenen Schlitze Funken. 
 
Der Baron steigt jeden morgen die lange Leiter hinauf zu seinem Arbeitszimmer, setzt sich an den wuchtigen Schreibtisch vor dem großen Fenster und lässt den Blick über sein Schutzgebiet wandern.
Seine Tochter benutzt den kleinen Lastenzug, der vor ein paar Jahren extra gebaut wurde, um den Schreibtisch herauf zu bringen. Thea von Wyrmstein würde lieber die Leiter erklimmen, wenn es nach ihr ginge, aber dazu trägt sie nicht die richtige Kleidung.
Es ist nun einmal so, dass eine Freiin jeden Respekt verliert, wenn das letzte, das ihre Untertanen am Morgen von ihr gesehen haben ein sich schnaufend entfernender Schlüpfer ist.
Eigentlich seltsam. Immerhin trägt fast jeder einen und sollte wissen, wie sie aussehen.
Aber die Freiin ist nunmal nicht jeder und ihr Vater achtet sehr darauf, dass die Untertanen nicht auf die Idee kommen, sie seien Menschen wie alle anderen.
Wenn die Untertanen einmal auf den Gedanken kommen, dass Barone Unterhosen tragen wie jeder andere auch, dann fragen sie sich womöglich als nächstes, ob der Baron sie tatsächlich besser beschützen kann als ein ganz gewöhnlicher Mensch.
Nein, ein Baron muss in jeder Lebenslage zuerst ein Baron sein und vielleicht irgendwo weit dahinter ein Mensch.
Und das gilt auch für seine Tochter. 
 
Ihr Bruder, der junge Gerwaldt, ist bereits oben. Mit den neuen Reitstiefeln ist er jetzt genauso so groß wie Thea, was sie ein wenig ärgert. 
Sie sind Zwillinge, aber weil sie ein Mädchen ist, hat sie wahrscheinlich nur noch ein paar Jahre Zeit um die Größere zu sein.
Und zumindest das hätte sie eigentlich verdient, immerhin ist sie die Reife, Vernünftige von ihnen beiden. 
 
Sie nickt ihrem Bruder zu und knickst vor Vaters Schreibtisch.
Er hat ihr den Rücken noch zugewandt, weil er ein Dokument unterschreibt und versiegelt.
"Thea! Wusstest du, dass ich den jungen Apfelschimmel zureite?", fragt Gerwaldt in mit gedämpfter Stimme.
"Ja.", flüstert Thea zurück. "Glückwunsch.", fügt sie pflichtbewusst hinzu. Und dann, weil sie nicht anders kann: "Bist du nicht noch ein Bisschen zu klein?" 
 
"Die Verantwortung wird dir gut tun.", Vater dreht sich auf dem Schreibhocker herum und steht auf.
"Ist Frederick schon auf dem Weg?", wendet er sich ab seine Tochter, "Ich sah ihn vorhin vom Schafskopf herunter reiten."
Thea nickt.
"Er kommt gleich."
Die vollständige Antwort hätte gelautet:  "Aber wahrscheinlich versucht er erst, sein Wams zu bürsten und seine Haare zu ölen bis sie flutschen wie ein Fisch.", aber man soll einen Soldat vor seinem Herrn nicht bloß stellen. Leider.
Es ist ungerecht, dass sie sich so rücksichtsvoll benehmen muss.
Wenn Vater doch endlich heiraten würde.
Aber eine Burgherrin wie ihre Mutter gibt es nicht mehr. Jedenfalls nicht hier im Rand des Reiches.
 
Jemand klettert die Leiter hinauf. Thea und der junge Gerwaldt nehmen rechts und links hinter dem Baron Aufstellung. Das große Fenster rahmt ihn in ein Gemälde seines kleinen Reiches.
Oben angekommen nimmt sich der Kletterer zu Theas Überraschung nicht die Zeit um kurz Atem zu schöpfen.
Die Tür öffnet sich schwungvoll und ein Bursche im dunkelgrauem Wams der Wyrmsteiner Garde, auf die Thea und die Mägde letzes Jahr in tagelanger Arbeit die Umrisse von Lindwurm und Fels gestickt haben. Sie kann die Krämpfe in den Fingern noch spüren.
Zugegeben, ein Mann mit einem Wappen auf der Brust sieht gleich viel mehr nach einem Gardisten aus als nur nach einem Trottel mit einem spitzen Stock. Aber sie hätten das Sticken ruhig selber erledigen können, während sie nichts Besseres zu tun hatten als Herumzustehen und Wachsam auszusehen.
Das Wams ist staubig, verschwitzt und kein Bisschen in Ordnung gebracht.
Frederick sieht vielmehr aus, als sei er wie er war vom Pferd gerutscht und schnurstracks hierher geeilt, wie es der Baron von ihm erwartet. So kennt Thea ihn gar nicht. Irgendetwas stimmt nicht.
Man sieht genau, wie er die Brust aufbläst um loszulegen, aber dann wirft er einen Blick auf den Jungen und Thea zu Seiten ihres Vaters.
Der Baron verschränkt die Hände hinterm Rücken und bedeutet Frederick mit einem ungeduldigen Nicken zu sprechen.
"Als mein Sohn und meine Tochter sollen sie ruhig hören, was vor sich geht."
Im Verlauf des Berichtes verzieht Vaters Gesicht sich zu einer grimmigen Maske und er dreht sich zum Fenster um hinauszustarren. Der junge Gerwaldt hält sich an seiner Reitgerte fest, seine Lippen zittern.
Thea hat die Hände in der Schürzentasche verborgen, damit niemandem das Zittern auffällt. Sie beobachtet Frederick genau. Bestimmt ist ein großer Teil übertrieben und ... ihr Verstand weigert sich das Wort 'ausgeschmückt' zu benutzen. Für so etwas Hässliches ist es zu schade. Vielleicht 'erstunken'. Ja. Bestimmt ist das meiste erstunken und übertrieben.
 
Der ganze Hof soll verwüstet worden sein. Eine große Holzscheune wie vom Orkan zertrümmert. Die Weiden sind blutgetränkt, vom Vieh fehlt jede Spur obwohl der Zaun nicht geborsten ist.
Und die Bauersleute... 
Thea wird ganz kalt vor Entsetzen.
So etwas würde selbst Frederick sich nicht ausdenken.
 
"Das reinste Massaker. Nur die drei Kinder sind am Leben. Unverletzt, wenn man von Schrammen und blauen Flecken absieht. Sie haben sich drei Tage in einem Schrank versteckt, wie man hört.", beendet Frederick seinen Bericht.
 
Vater lässt die Stille eine Weile schwelen. Seine Knöchel nehmen wieder ihre übliche Farbe an, nachdem sie die letzten Minuten weiß verfärbt gewesen sind.
Er dreht sich um.
"Schick jemanden nach den Waisen. Sie sollen in eine gute Obhut gegeben werden. Die Leute, die sich um sie annehmen bekommen zwanzig Gulden aus meinem persönlichen Kasten, in jährlichen Raten zu dreiunddreißig Heller." Er zögert kurz und fügt dann hinzu: "Aber erzählt ihnen erst von dem Geld, wenn sie sich bereits einverstanden erklärt haben."
Dann verfinstert sich sein Gesicht.
"Aber vorher will ich mit den Kindern reden."
Thea berührt ihn am Arm.
"Es ist besser, wenn ich das mache."
Ihr Vater runzelt unwirsch die Stirn.
"Warum?"
Uff. Warum wohl?
"Du hast das Feingefühl eines Ochsen mit Blähungen.", erklärt sie trocken.
Auf die Stimmung im Raum, bis eben noch zum Zerreißpunkt gespannt, hat das die Wirkung eines kleinen Schnipp mit der Schere.
Nervöses Grinsen unterschiedlicher Ausprägungen greift von einem Gesicht zum anderen über. 
In Gedanken fügt Thea ihrer Argumentation hinzu: Außerdem wirst du sehr wütend, wenn es um Kinder geht. Die armen Würmchen haben genug durchgemacht. Beim Anblick eines zornigen Mannes wird es sie kaum trösten, dass sich sein Zorn gegen ihre Peiniger richtet.
 
"Wir sollten sofort losreiten und das Untier zur Strecke bringen!", krächzt eine heisere Stimme vom Schreibtisch her.
Alle Blicke richten sich auf den jungen Gerwaldt, der noch immer seine Reitpeitsche umklammert. Rote Flecken bilden sich auf seinem vordem aschfahlen Gesicht.
Frederick lässt das natürlich nicht auf sich sitzen.
Er wirft sich in die Brust.
"Wenn es nötig ist, würde ich allein gegen tausend Unholde reiten!", ereifert er sich.
Sein großspuriger Blick huscht zu Thea. Es gefällt ihr nicht besonders, wie er sie ansieht. Aber sie lächelt angemessen nachsichtig, wie eine Freiin, deren Lehnsmann einen unbedachten Vorschlag macht. Nicht, wie eine Frau mit einem Teelöffel Grips, die sieht wie ein Trottel sich in einer ernsten Situation komplett daneben benimmt.
 
Baron Gerwaldt schüttelt unwirsch den Kopf.
"Wenn wir mit den Leuten gesprochen haben, werden wir wissen, womit wir es zu tun haben. Bis dahin will ich nichts mehr von Ungeheuern hören. Tollwütige Tiere und Räuber haben uns bisher stets mehr Scherereien bereitet als Monster und Unholde."
 
Fredericks Gesicht zeigt, dass sein "Zu Befehl, Herr." aus dem Atem besteht, den er eigentlich für einen Widerspruch geholt hatte.
Thea sieht so unauffällig wie möglich zu ihrem Bruder hinüber. Er ist noch immer etwas blass um die Nase, aber der Eifer des Zorns hat den Schock überwunden. Vermutlich ist das gut. Vermutlich ist es angenehmer als Schrecken.
 
Als Frederick gegangen ist, lässt Vater sich auf seinen Stuhl sinken und schüttelt den Kopf.
"Das hat uns gerade noch gefehlt."
"Was uns eigentlich fehlt, sind Leute und Geld.", meint Thea mit einem Achselzucken. "Wie immer."
Sie legt ihrem Vater die Hand auf die Schulter.
Er strafft sich und ihre Hand rutscht weg.
"Du hast Recht. Kümmer dich um ein Quartier für die Kinder und schick mir die erste Magd herauf. Und Gerwaldt, du läufst und holst Korben her. Ich muss mit ihm unser vorläufiges Vorgehen besprechen."
Ich dachte, du wolltest erst entscheiden, wie du vorgehst, wenn wir die Fakten kennen., denkt Thea. Aber sie sagt nichts dazu. Warten gefällt niemandem.

 

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Nov 16, 2021 08:26

Da hattn se aber Glück, die Würmchen. Bzw. genug Ablenkung. Schrank hilft da normal nicht viel...

Nov 16, 2021 13:04 by Sabina Berenstein

Silberne Mistgabeln helfen wahrscheinlich besser als Schranktüren, sind aber nicht so gut um sich dahinter zu verstecken. Oder um Mist zu schaufeln.

Nov 16, 2021 08:27

Die Frage hier ist doch - trägt Gerwaldt eine Unterhose? xD

Nov 16, 2021 08:31

Man könnte ja die Unterhosen besticken. Dann sind es ganz besondere Unterhosen! *wird von Mägden mit Mistgabeln und Fackeln davon gejagt*

Nov 16, 2021 13:05 by Sabina Berenstein

xD Erschlagt sie!

Nov 16, 2021 08:30

Monster und Unholde machen kaum Scherereien - das Problem sind die FLIEGENDEN Hexen! xD