10. August 1957

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Am nächsten Tag läutete in allen vier Zimmern um halb Sieben der telephonische Weckruf. Johann brauchte einige Konzentration, um den Hörer abzuheben. Sein Kopf schmerzte zwar nicht, aber er fühlte die Mischung aus Absinthe und Wodka, die er gestern in großen Mengen zu sich genommen hatte, deutlich. Er lag, voll angezogen, bäuchlings auf seinem Bett.
Als das Telephon in Aleksandras Zimmer läutete, war sie bereits angezogen. Sie trug ein hochgeschlossenes, dunkelgrünes Kostüm. Ihre Haare waren zu einem strengen Knoten zusammengesteckt und ihr Gepäck in einer schmalen Reisetasche bereits fertig gepackt. Sie überzeugte sich nochmals, dass das abgezogene Bettzeug ordentlich gefaltet an der rechten unteren Ecke des Bettes lag. Auf das Klingelzeichen hin, hob sie ab, dankte kurz auf Englisch für den Weckruf, nahm ihre Reisetasche und verließ das Zimmer.
Thomas saß, als das Telephon läutete, immer noch am Tisch, vor ihm einen achtseitigen, eng beschriebenen Brief an seine Verlobte. Im Mistkübel unter dem Tisch lagen zahlreiche zerknüllte Entwürfe des Schreibens. Er hatte auch einen Bericht für Oberstleutnant Bruschek abgefasst, in dem er sagte, er habe die letzten Tage mit Doktor Erath in einem Hotel außerhalb der Stadt verbracht, um vor eventuellen Ausschreitungen geschützt zu sein. Das war zugleich wahr und doch nicht so ausführlich, das etwas von den Geheimnissen durchschimmerte, die er auf der abenteuerlichen Reise mit Leonid und Aleksandra erlebt hatte. Im Schreiben an seine Verlobte schilderte Thomas lediglich die Schönheit Moskaus und die Gastfreundlichkeit der Sowjetunion. Sie sollte sich keine Sorgen machen, weder aus politischen noch aus persönlichen Gründen. Er erwähnte weder Johann, noch Aleksandra und schon gar nicht Leonid. Warum sollte sie zuhause sich den Kopf über Menschen zerbrechen, die sie nicht kannte; und nie kennenlernen würde?
Leonid stand am Fenster und blickte zum Hafen. Auf seinem Hotelbett lagen, eng ineinander verschlungen, drei junge Kolumbianerinnen, die fest schliefen. Auch der Weckruf schien nur eine kurz aufzurütteln, die jedoch sofort ihre Augen wieder schloss. Leonid suchte seine Kleidung zusammen und ging ins Bad. Beim Rasieren dachte er über die letzte Nacht nach. Er war, nachdem er Aleksandras Zimmer verlassen hatte, noch durch die Stadt geschlendert, in einigen Bars auf die Suche nach einer weiteren Begleitung für die Nacht gegangen und schließlich mit den drei Mädchen wieder hier im Hotel gelandet. Für sie war er ein exotischer Tourist, von dem sie auf ein paar Getränke eingeladen worden waren und von dem sie möglicherweise auch etwas Geld bekommen würden. Für ihn waren sie hübsche, aber namenlose Erinnerungen, die ihm geholfen hatten, die Schlaflosigkeit der letzten Nacht zu überbrücken. Wenn er jetzt bei Tag über Wladimirs Tod nachdachte, erschien ihm dieses endgültige Ereignis als seltsam leicht: Was sie beide verbunden hatte, war nur im kleinsten Teil die Freude an körperlicher Nähe gewesen, die vor allem Leonid wesentlich häufiger in anderen Armen gefunden hatte. Die Verbindung bestand vielmehr in diesem unendlichen tiefen Verständnis für die Verletzungen des anderen, die dieser vor der ganzen Welt geheim halten musste. Was für eine lächerliche Überlegung, dachte Leonid. Wer braucht schon einen Vertrauten? Mit dem man die Schmerzen teilte? Es war doch viel wichtiger, solche Freunde zu haben, mit denen man die Freuden teilen konnte. Der Blick sollte auf die Zukunft, das Wachstum, die Steigerung gerichtet sein, nicht auf die Vergangenheit, die Schuld und die verlorenen Stunden, die auch die Erinnerung nicht zurückbringen konnte. Bevor er leise aus dem Zimmer ging, legte er den Rest seines Geldes auf den Tisch und warf einen letzten Blick auf die Schlafenden. Beim Hinuntergehen zum Restaurant sah er zuerst Aleksandra, die bereits am Tisch auf der Terrasse saß. Warum trägt sie bloß bei diesem Klima solche Kleidung? Fragte sich Leonid, als er auf den Tisch zuging. „Guten Morgen, Genossin.“ Begann er förmlich und in ihrer Muttersprache das Gespräch. 
Aleksandra blickte von ihrem Tee auf und grüßte zurück: „Guten Morgen, Genosse. Ich hoffe, Sie sind für die Rückreise ausgeruht. Ich werde ihnen nach der Rückkehr einen Tag frei geben, aber danach erwarte ich, dass sie einen abschließenden Bericht über die Ereignisse der letzten Tage verfasst haben. Sie können auch die Reisezeit schon dazu nützen, wenn Sie sich in der Lage fühlen. Sie werden natürlich alle Details und Namen auslassen, die nicht unmittelbar mit dem Schutz unseres Gastes zusammenhängen. Der Grund für unsere Reise nach Kolumbien war die Suche nach Schutz und die günstige Gelegenheit eines Fluges. Genosse Piatnizki wird mit keinem Wort erwähnt werden, eben sowenig der Besuch in der Kaserne.“
Leonid nickte. „Ich werde den Bericht verfassen und zur Morgenmeldung geben. Ich vermute, Sie werden während der Reise ebenfalls arbeiten?“ Er setzte sich an den Tisch und winkte nach dem Kellner: „Kaffee bitte!“ Dann wandte er sich an Aleksandra, die ihm nun so fern erschien wie bei ihrer ersten Begegnung in ihrem Büro: „Wird Generalwachtmeister Winter in Ihrem Bericht vorkommen?“
„Als Gast und dann Begleiter von Doktor Erath.“ Sie griff eine Zitronenspalte und presste sie in ihren Tee. Inzwischen servierte der Kellner Leonid den Kaffee.
Thomas kam dazu, grüßte Aleksandra durch ein Nicken und wandte sich dann an Leonid: „Bitte wünsche der Frau Generalmajor von mir einen guten Morgen. Doktor Erath lässt sich entschuldigen, er möchte heute auf das Frühstück verzichten.“ 
Das Lächeln, dass bei Thomas‘ Ankunft kurz auf Aleksandras Gesicht gekommen war, verzog sich sofort, als Leonid ihr die Begrüßung übersetzte. 
Auf Thomas‘ Wink kam der Kellner. Thomas bestellte einen Kakao und war verwundert, als er den ersten Schluck davon trank. Statt der gewohnten Süße war das Getränk durch die Beimengung von Pfeffer und Chili scharf und bitter. Vielleicht wirkte es gerade deswegen ermunternd auf ihn. Er versuchte dem Kellner zu vermitteln, dass der vierte Gast nicht kommen würde. Daraufhin brachte der Kellner mit einem zweiten Bediensteten ein Körbchen mit halbfrischem Gebäck, zwei Teller, einen mit geraspeltem Gemüse, einen mit Käse und Speck. „Wenn Sie Eier wünschen, gebraten oder gekocht,  bereiten wir sie gerne gegen einen Aufpreis für Sie zu.“ Alle drei lehnten ab.
„Ich habe für uns einen Flug von Bogota über Paris nach Moskau gebucht. Nach Bogota können wir ja gemeinsam mit dem Schiff fahren.“, sagte Aleksandra. 
Thomas überlegte, wie er es sagen sollte, und begann dann zu sprechen: „Frau Generalmajor, es ist für Doktor Erath sicher besser, wenn er allein nach Bogota fährt. Der Landweg entspricht im mehr als die Schifffahrt. Und…Er muss sich über vieles Gedanken machen.“ 
Aleksandra schien verwirrt, als Leonid ihr übersetzte. „Er macht sich aber nicht Vorwürfe, dass er Schuld am Tod von Genossen Piatnizki sei?“ 
Thomas griff das Angebot auf: „Natürlich geht ihm dieser Gedanke durch den Kopf. Er ist aber auch über das abrupte Ende der Forschungstätigkeit in Moskau und der guten Zusammenarbeit traurig.“

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